Philipp Hager

Vor dem Mut,
aus der Reihe zu tanzen,
kommt der Mut,
überhaupt zu tanzen.

Auf dem Krankenhausbett
liegt es sich gemütlicher als erwartet.
Auch der Kleine ist gut eingeschlafen.
Trotz des Sensors an seiner großen Zehe
und dem Kabel, das dort seinen Anfang nimmt:
Es schlängelt sich unter der Bettdecke hervor,
durch die Stäbe des Bettgitters,
in einen schlaflosen Monitor voll greller Zahlen.
Sobald der Puls einen bestimmten Wert unterschreitet,
zersticht ein Piepsen die Luft
und Schritte hallen im Korridor.
Die Krankenschwester trabt herein,
öffnet mit Daumen und Zeigefinger seine Augenlider,
prüft mit einer Taschenlampe die Pupillen,
dann runzelt sie die Stirn
und schraubt den Schwellenwert des Monitors nach
     unten.
In der letzten Stunde bereits zwei Mal.
Es ist alles in Ordnung, nur,
dass der Kleine so bereitwillig seinen Griff in der
     Welt löst,
sich in die Schwärze forttragen lässt
und in der friedlichen Tiefe des Schlafs bettet.
Ich bin noch wach, als die Krankenschwester
zum dritten Mal reinkommt.
„Ihr Sohn ist wirklich entspannt“, staunt sie.
„Normalerweise schlafen Kinder hier nicht so gut,
aber sein Herz hat die Ruhe weg.“
Als wir wieder alleine sind,
blicke ich in sein schlafendes Gesicht.
Ja, er spürt, dass er sicher ist.
Er liegt eingekuschelt unter meiner Schwinge,
mein zerkratzter Schnabel wacht über ihn.
Ich bändige die bösen Träume
und vertröste die Fährleute.
Ich netze seine Lippen mit Tau
und trage ihn Stunde für Stunde durch diese Nacht.
Wie lange sie auch
dauern mag.

Willkommen in meinem Wald.
Ich verspreche dir,
es ist ein Wald,
wie du noch keinen gesehen hast.
Er streckt sich an Steilküsten entlang,
über eisglitzernde Gipfel
und ruhelosen Wüstensand,
über Länder, Kontinente
und Zeitalter. Es kann vorkommen,
dass zwischen zwei Bäumen
ein ganzes Jahrtausend liegt –
aber sei gewiss: Unter der Erde
berühren sich ihre Wurzeln
und ihre Kronen
strecken sich derselben Sonne entgegen.

Willkommen in meinem Wald.
Hier gibt es keine Lebkuchenhäuser,
keine düsteren Fratzen.
Nur Sonnengezitter auf moosigem Fels
und eine süße Freiheit.
Komm herein, ich freue mich, dich zu sehen.
Hier kannst du tun und lassen,
was immer du willst,
behalte nur im Hinterkopf,
dass alles der Wirklichkeit gehorcht –
klettere ruhig an den Stämmen hoch,
sie tragen dein Gewicht
und die Aussicht ist einen Blick wert,
wenn du aber stürzt,
achte darauf, dir kein Bein zu brechen.
Fühle dich frei,
nach Herzenslust zu jagen,
vielleicht aber
wirst du gleichzeitig gejagt.
Und die Rätsel,
die du unweigerlich antreffen wirst –
wenn du sie entschlüsselst,
vielleicht flüstern sie dir etwas ins Ohr,
aber du hast keine Garantie,
dass es dein Ohr
auch wieder verlässt.

Hier ist noch alles offen.
Das ist das Schöne daran.

Willkommen in meinem Wald.